Bilder von Europa - Die Länderstudie Estland

 

Aksel Kirch, Mart Kivimäe, Marika Kirch und Iris Brökling

 

A. Die Struktur der Länderstudie

1. Sich verändernde Bilder von "Europa" - Historischer Überblick

2. Europa als kulturelles Konzept (Das Paradigma des intellektuellen Euro-Skeptizismus)

3. Europa und die nationalen Interessen von Estland

4. Europa und ökonomische Interessen im Baltikum

5. Europa und die "östlichen" Eliten

6. Die Generationen Europas

7. Hoffnungen und Ängste bei Esten und Russen

 

I. Die Dimensionen der Konzepte

1. Sich verändernde Bilder von "Europa" - Historischer Überblick

 

Mart Kivimäe schreibt im Kapitel "Von der Ideengeschichte des Euro-Skeptizismus in der estnischen Kultur" (im Buch - Estland auf der Schwelle zur EU, Tallinn 1998, S. 131-133) Folgendes: Die estnische "Europäisierung" beschränkt sich nicht allein auf die geistigen Traditionen und die historische Identifikation, sondern sie ist eine sich fortlaufend aktivierende und realisierende Denkweise. [...] Die Vorstellung von der estnischen "Europäisierung" stellt sich oft in Form konkurrierender Begriffe der Europäisierung dar, beispielsweise in den Varianten des Baltischen Kultur-Workshops, der Zugehörigkeit zur Hanse, der Ideologie der Nordischen Mentalität oder als Idee der Grenzkultur zwischen West und Ost. Diese Varianten entstammen fast alle den Visionen der gesellschaftlichen Entwicklung des 19. Jahrhunderts. Im heutigen Postindustrialismus erhalten diese Ideen aufs Neue die Möglichkeit "mitzureden", so in der sehr schnell entstandenen neugeschichtlichen Mentalität, im innenpolitischen Diskurs und in wirtschaftlichen Zeichen. All diese Vorstellungen von der Mentalität der "Europäisierung" sind historisch langlebig. Sie haben als konservative Muster der Wahrnehmung der Kultur die vom totalitären System aufgezwungenen und bis heute zerstörten politischen Mythen überlebt.

DieVolkskultur der Zeit des nationalen Erwachens, das Erbe des Deutschbaltentums und die Bewegung Noor-Eesti sind mit der heutigen Zeit offensichtlich unmittelbar verbunden. Aber sie sind auch Teil der in der Vergangenheit bleibenden Epochengrenze, von der uns die postsozialistische Modernisierung, die höchstkomplizierte Technisierung und der Einfluß der Massenkultur zeitlich entfernt und durch sich verändernde Kulturerfahrungen inhaltlich entfremdet.

Der Einfluß der Bewegung Noor-Eesti scheint in einem Verständnis für Probleme, die mit der europäischen Idee zusammenhängen, zu bestehen, welches Estland schon vor Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit Anfang des 20. Jahrhunderts als Werthaltung erlangte; unabhängig bleibend vom Niveau der sich in der damaligen gemäßigten Leistungsgesellschaft formenden polemischen Kulturdiktatur. Das Problem, in einer Kultur zu leben, die innerliche Offenheit der Kultur und der Gesellschaft als natürlicher Lebenswelt der Menschen und davon ausgehend als Feld der Selbstverwirklichung, ist letztlich aus dem Blickwinkel der Kulturdiktatur nicht so bedeutsam wie das Problem des Kulturschaffens, der Lenkung und der Repräsentation.

"Europäisierung" verstand man größtenteils als dem baltischen Provinzialismus, dem bäuerlichen Primitivismus und dem gesellschaftlichen Konventionalismus entgegenstehender puristischer Kulturbegriff. Das Hauptziel einer solchen projektiven Europäisierung war ein vergleichbarer kultureller Level der estnischen und der europäischen Kultur. Das Resultat aber war eine Modernisierung der estnischen Gesellschaft, eine die kulturellen Sympathien spürbar erweiternde heimische humanistisch-ästhetische Kultur, die neue Möglichkeiten zum rationalen Selbstverständnis der Kultur eröffnete und das spätere Kulturbewußtsein der Erbengeneration dieser Errungenschaften als wahrhaft geistige Revolution bestimmte. Das war der Grundstein zu einer Westorientierung der eigenen Kultur ungefähr in den Jahren 1905 bis 1915 und der eigentliche Beginn des estnischen Kulturlebens.

In der neuesten Phase des Euro-Diskurses, ungefähr seit Ende der 1980er Jahre bis Mitte der 1990er Jahre, standen solche Forschungen zur Euro-Identität im Zentrum der Aufmerksamkeit, die den früheren, den Euro-Zentrismus des 19. Jahrhunderts und das Dazwischentreten der nationalen Symbole bewußt zu verdrängen versuchen. Sie hoben das Bedürfnis hervor, Mittel zur Begründung der Identität im 20. Jahrhundert selbst zu finden, in der aktuellen Gegenwart.

 

2. Europa als kulturelles Konzept - Das Paradigma des intellektuellen Euro-Skeptizismus

 

Im bereits erwähnten Artikel von Mart Kivimäe stellt er als erste Problemanordnung die Entwicklungsgeschichte des estnischen Euro-Skeptizismus vor. Im vorliegenden Fall gibt uns diese Analyse eine Richtung, da sich in der konzeptionellen Entwicklung des estnischen Euro-Skeptizismus solche Züge auftun, die "qualifizierend gerade als Erscheinungsform der "Europäisierung" in der weiteren Geschichte des Estentums sind. So aber prägen diese Züge angesichts intellektueller Traditionen auch in der heutigen an der "Europäisierung" orientierten Zeit der Neubewertung von kulturellen Werten einen Teil des nationalen Zivilisationsgepäcks, dessen Interpretation zugleich das Fertigwerden mit den Schwierigkeiten der Gegenwart erleichtert und dadurch indirekt mitwirkt am Entwurf eines Zukunftsprogramms".

Der Euro-Skeptizismus als Phänomen (und als in den vergangenen Jahren in der estnischen politischen Arena Fuß fassendes Schlagwort) hat in der Struktur der öffentlichen Meinung in Estland einen verhältnismäßig mehrdeutigen, verschwommenen und widerspruchsvollen Resonanzboden. Das unklare Bedeutungsfeld des Euro-Skeptizismus ist vor allem charakterisiert durch die aktuelle Situation der Gesellschaft, ebenso wie es den Stand der durch die Vereinigung Estlands mit der EU hervorgerufenen verzerrten Diskussionen widerspiegelt.

Vier Punkte, die in den Bedeutungskontext des heutigen Euro-Skeptizismus gehören.

(1) Die Rekonstruktion der Ideengeschichte des Euro-Skeptizismus auf einer persönlichen Ebene fügt vor allem der heutigen sozialpolitischen Meinungsanalyse frühere humanitar-kulturelle Konzeptionserfahrungen hinzu, welche man als natürliche Unterart des "sozialen Kapitals" heutiger Prägung betrachten kann.

(2) Unter Berücksichtigung der in der heutigen Presse gezogenen Schlußfolgerungen aus der Analyse der Euro-Diskussion, wonach diese selbst bisher häufig die Herausbildung von "auf einfachen Stereotypen basierenden Einstellungen" in der Gesellschaft unterstützt hat, ermöglicht es die Erörterung solcher Konzeptionserfahrungen, schöpferische Ideen in das Diskussionsumfeld einzubringen, was grundsätzlich nicht geschehen kann bei Stereotypen, die bereits eine fertige Form haben.

(3) Die Erfahrung im Umgang mit dem Thema Europa, die einen Vergleich des Westlichen und des Heimatlichen beinhaltet, lenkt die Aufmerksamkeit auch auf fundamentale anthropologische Umstände; daß die Menschen nicht nur rational und politisch, sondern auch emotional und kulturell spüren wollen, "wohin sie gehören", somit ist der sicherheitspolitische Aspekt der Euro-Integration abhängig von der Identität eines kleinen Landes als lebensnotwendig anzusehen.

(4) Die These der Vorherrschaft der Kultur, die global aktuell ist nach dem Zerfall der "diktatorischen Welt" und deren politischer Ideologie, welche der "europäischen Welt und ihren Menschen" mißtraute, muß unter anderem auch in der Euro-Problematik ein Hinweis darauf Aufnahme finden, daß das Maß der Freiheit der Gesellschaft auch außerhalb der Politik annehmbar ist. Politik ist nicht Kultur, sondern Kultur eine Determinante der Politik.

In der heutigen kulturellen Entwicklung Estlands taucht die Frage nach der Entwicklungskrise des Estentums als Orientierungskrise auf. Laut Mart Kivimäe ist das eine existentielle Frage, weil es die Entwicklung des Estentums am Ende des 20. Jahrhunderts unter dem Aspekt der historischen und politischen Entwicklung charakterisiert, daß es gezwungen ist, sich im Einflußbereich der verschiedenen Modernisierungsschübe der jüngsten Geschichte zu bewegen. Aber andererseits gehört zur Entwicklung zu einem zeitgenössischen Volk gleichermaßen die Nicht-Identifikation mit einer Politik der Gewalt und eine Anpassung an die Modernität. Das Dilemma eines kleinen Kulturkreises ist in der gegenwärtigen Zeit die Gefahr, daß das Estentum zu einer kulturpolitischen Anomie umschlagen könnte und daß die nationalen Gefühle keine positive Bedeutung als Faktor der demokratischen Politikkultur behalten würden.

 

II. Dimension der Wahrnehmung

 

3. Europa und die nationalen Interessen von Estland

Bei dem Beitritt Estlands zur EU handelt es sich um eine gleichermaßen tiefe Wende wie bei der Wiedererlangung unserer Unabhängigkeit. Deshalb ist es sehr wichtig, wie dieser Beitritt sich vollzieht. Mit welchen Problemen wir es nun auch zu tun haben - wir können behaupten, "diese Wahl war Ausdruck unserer eigenen Wünsche". Dieser ehemals sichere Wunsch legitimiert auch die Wahlen, die heute anstehen. Sogenannte materielle Erwägungen oder außenpolitische Abmachungen, wie man sie auch nennen mag, machen jedoch auch einen Teil des Beitrittsprozesses aus. Daneben sind neue inner-estnische und in der europäischen Perspektive das "Wir-Gefühl" bestimmende gesellschaftliche Organisationsmodelle wichtig, die in den nächsten sechs Jahren eine sehr wesentliche Rolle spielen und die Menschen dazu bringen können, sich effektiv für die Erneuerung der Gesellschaft einzusetzen und die zudem Stabilität garantieren.

 

Welches auch der von Estland gewählte Weg sein wird - im sich modernisierenden Estland entstehen aufgrund der Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen und der Produktionsstrukturen in der nahen Zukunft auf jeden Fall neue "Verlierer" und "Gewinner". Die Frage ist die, wie sehr sie mit der sich vollziehenden EU verbunden sind - wieviel vom Pessimismus oder von den betrogenen Hoffnungen ist objektiv gesehen unvermeidlich und wieviel ist eine Verstärkung nicht zutreffender Informationen. Heute kann ein großer Teil der estnischen Einwohnerschaft die eigene Zukunft im europäischen Kontext nicht mehr sicher vorhersagen.

 

 

4. Europa und ökonomische Interessen im Baltikum

 

Die Erweiterung der EU ist ein objektiver, mit der Modernisierung und Globalisierung der Welt sowie der damit verknüpften Vertiefung der Zusammenarbeit der europäischen Völker verbundener Prozeß. Die Eingliederung Estlands und anderen Baltischen Staaten in immer intensivere Handels-, Informations-, Geld-, Arbeitskraftsysteme etc. ist unumgänglich. Der geschlossenen Systemen (eine der klassischen sozialen Formen ist der Nationalstaat) eigene chronische Informationshunger und die institutionelle Lückenhaftigkeit werden in der gegenwärtigen Zivilisation immer augenscheinlicher.

Wie kann eine neue europäische Staatlichkeit aussehen, daß sie nicht die mit klassischen Nationalstaaten einhergehenden Probleme der Machtlegitimation wiederholt, das ist in vielem noch das Objekt theoretischer Nachforschungen. Welche Möglichkeiten es gibt, diese vorerst noch theoretischen Ideen zu realisieren, das hängt in hohem Maße von der praktischen Entwicklung der Vereinigung mit der EU ab, wo neben wirtschaftlichen Erwägungen auch sicherheitspolitische Interessen immer stärkeres Gewicht gewinnen. Estland hat auf jeden Fall vier fundamentale Gründe zum Anschluß an europäische Strukturen.

Erstens ist Estland geographisch gesehen europäische Peripherie und es ist objektiv erschwert, auf sog. natürlichem Weg neue "Energien" hierher umzuleiten oder an solchen "Wellen" teilzunehmen. Diesen Mangel kann man durch die Entwicklung supranationaler Strukturen kompensieren.

Zweitens ist das Baltikum (Estland, Lätland und Litauen) bis zur engen Verbindung mit quasi-staatlichen Institutionen, wie WEU, NATO und EU, ein politisch instabiles (graues) Gebiet, was die Lage von Baltikum als Investitionsgebiet für westliche Investoren verschlechtert und Manipulationen aus östlicher Richtung erleichtert.

Drittens hat Estland im globalen Modernisierungsprozess ein halbes Jahrhundert verloren. Das Aufholen der technologischen, rechtlich-kulturellen und sozialpolitischen Rückständigkeit benötigt außergewöhnliche Mittel. Ein solches und das mit der besten Perspektive ist der Beitritt zur Europäischen Union.

Viertens könnten die Estland eigene sprachlich-kulturelle Identität/deren Träger in "Zusammenarbeit" mit der europäischen Identität/mit deren Trägern sehr wirksam der auf kulturellem Gebiet vordringenden Amerikanisierung entgegenstehen.

 

Euro-integration, like any change, brings up the question: What is the impact of the process on the Estonian economy going to be and which will be the sectors most affected by accession? Accession centainly offers more oppurtunities for business especially for exports to other European countries.

It affects medium-sized and large enterprises and creates better opportunietes for internationalisation. In the long term accession offers Estonia better opportunities for stable economoc growth because of closer contact with a more stabe economic environment. A significant role is played also by the subisidies paid in the EU to less development areas. The accession would also enable the major development project get co-finance from the EU funds (see Estonian Business Guide. Tallinn, 1999, 280 p.).

 

  

III. Strategische Gruppen

 

5. Europa und die "östlichen" Eliten

 

Die Eliten Estlands müssen folglich nun wählen, auf welche Weise sie am Globalisierungsprozeß teilnehmen wollen. Die einzige Teilnahme-Perspektive ist die Partnerschaft, denn ebenso wie bei jedem kooperativen Prozess entfesselt diese in der estnischen Gesellschaft verborgene sozial-kulturelle Ressourcen und legitimiert durch die aktive Partizipation der Bürger den politischen Überbau - die Europäische Union.

Die bisweilen sogar direkt ausgesprochene Ansicht, daß der Beitritt "von den Politikern erledigt werden muß", ist Teil der postkommunistischen schwachen policy der estnischen elitären Politik. Man darf nicht vergessen - es geht um eine der grundlegendsten Entscheidungen in unserer Geschichte, die die Möglichkeiten des estnischen Soziallebens und der Wirtschaftsordnung irreversibel begrenzt.

Laut der 1997 von der EU-Kommission vorgestellten "Agenda 2000" "hat Estland demokratische Grundmerkmale und stabile Institutionen, welche den Rechtsstaat und die Menschenrechte gewährleisten [...]. Die estnischen politischen Institutionen handeln entsprechend der Anforderungen und in stabilen Verhältnissen".

Fast alle estnischen Parteien haben ihre sichere Unterstützung für den EU-Beitritt zum Ausdruck gebracht. Deshalb ist es nicht wahrscheinlich, daß eine an die Macht kommende Parteienkombination (egal welcher Ausprägung) die bereits gewählte Richtung wesentlich erschüttern könnte.

Die politische Machtordnung Estlands, Parteiprogramme, staatliche Entwicklungsprogramme etc. beginnen in umfassender Weise dem Rhythmus der Staaten der EU zu folgen und damit verändert sich auch die Gestalt der politischen Landschaft. Daran, inwieweit die Bedeutung der mit der europäischen Integration einhergehenden Veränderungen für das politische Leben Estlands in der Zukunft steigt (sowohl auf staatlicher Ebene als auch bei den lokalen Selbstverwaltungen), können wir die Tiefe der praktischen politischen Integration messen (in jeder Partei bildet sich eine eigene "Eurokraten"-Fraktion heraus).

Zugleich ist unbestritten, daß die Erwartungen in so manchem Bereich die von der EU gebotenen realen Möglichkeiten übersteigen und im estnischen Kontext natürlicher erscheinende Lösungen begrenzen. Einbrüche und Fehlschläge der Wirtschaft verbindet man begründet und manchmal auch unbegründeterweise mit Europa.

Fehlschläge nutzt man sicher zur Diskreditierung der aktiven EU-Vertreter einer bestimmten Politik in Wahlkämpfen und privaten Konflikten. Aus Kritik an der EU kann hin und wieder Populismus werden. Das alles hinterläßt Spuren am image der EU. Zugleich kann aus dem verstärkten Kampf mit Europa um die Erweiterung(spolitik) der EU einer der wichtigsten Mechanismen bei der Initiation einer aufklärenden Beschäftigung mit dem Thema werden. Einführende Debatten ersetzen den Gedankenaustausch der politischen Gruppen und damit auch denjenigen, der die Interessen der Menschen unmittelbar betrifft.

Wenn die Bewegung in Richtung EU plötzlich die generelle Vorhersagbarkeit der estnischen politischen Entwicklungen vergrößert, dann verringert das Zusammentreffen der konkreten Interessen der Menschen mit dem sich erneuernden Europa, mit der Anpassung an die in der gemeinschaftlichen europäischen Zukunft erst Form annehmende persönliche Lebenswelt die Prognostizierbarkeit ihrer Wahlentscheidungen.

Verglichen mit dem sog. "Durchschnitts-Esten" ist die die öffentliche Meinung beeinflussende Position der Eliten überwiegend Pro-EU. Es gibt Grund für die Prognose, daß sie als Meinungsführer, als in den Massenmedien das Wort ergreifende Menschen in der nahen Zukunft eine positivere Einstellung zur EU herausbilden werden.

Gleichzeitig sind alle Parteien daran interessiert, daß das sich integrierende Estland aus dem Beitrittsprozeß nicht instabil und frustriert hervorgeht. Obwohl in vielen Bereichen die für den Beitritt zur EU aufgestellten Anforderungen nicht spezifisch, sondern eher Teil einer allgemeinen Modernisierung sind, hinterließe ein partielles Scheitern der Verhandlungen ein tiefes Trauma.

 

 

6. Die Generationen Europas

 

Der Beitritt zur EU wird auf jeden Fall begleitet von einem Riesenschritt Estlands bei der Institutionalisierung der europäischen Integration. Vom heutigen Standpunkt aus kann man sagen, daß der größte Prüfstein beim Beitritt Estlands zur EU und zugleich bei der Möglichkeit, das Abstimmen der estnischen Bürger vorauszusehen, der Mangel an Informationen ist - sowohl über die EU als auch über die Ausgestaltung der weiteren Verhandlungen. Der künftige europäische Bürger beginnt aber, diese beiden Punkte immer konkreter mit seinen alltäglichen Interessen und mit seiner Zukunft zu verbinden. Allgemeine sogenannte "Pro"- und "Contra"-Befragungen geben unter solchen Bedingungen nicht mehr die notwendigen detaillierten Informationen zur Lenkung der Prozesse. Das Eurobarometer braucht eine Vervollständigung in den aktuell akzentuierten Monitoring-Fragen, die Objekt der sich entwickelnden Eurodebatte sind.

Untersuchungen, die die Osterweiterung der EU und die Alternativen Estlands sowie die öffentliche Meinungsbildung widerspiegeln, entsprechen nicht den Standards, die den Prozeß transparenter machen und sich rational auswirken würden; sie sind aber besonders häufig durchgeführt worden. Obwohl wir es grundsätzlich mit einer politisch bereits sehr festgelegten Entscheidung zu tun haben, ist zu deren Umsetzung vom Standpunkt der estnischen Stabilität her gesehen trotzdem eine möglichst hohe Legitimität wichtig.

 

Die Informiertheit der estnischen Bürger über Fragen der EU und ihre Reaktion auf Informationen stellt keinen linearen Prozess dar - d.h. mit einer besseren Informiertheit geht nicht automatisch auch eine vorhersagbare Änderung der Einstellung einher.

Die in Tabelle 1. zusammenfassend dargestellten Angaben bestätigen, daß vor drei Jahren ein plötzlicher Umschwung in der Einstellung der estnischen Bevölkerung stattgefunden hat, den man als mit der besseren Verfügbarkeit der Informationen über Europa einhergehenden Durchstoß bezeichnen könnte. Das kam in einer plötzlichen Verringerung der "Ja-Stimmen" im Falle eines Referendums zum EU-Beitritt zum Ausdruck. Die Erklärung ist folgende: im Kontext einer abstrakten Beitrittsperspektive war es relativ einfach, eine scheinbar zustimmende Haltung einzunehmen, in einer schon konkreteren Wahlsituation zögerte man.

Tabelle 1. Wenn morgen ein Referendum zum Beitritt Estlands zur EU stattfinden würde, wie würden Sie abstimmen? (%)

 

Ich würde ... abstimmen

November 1995

April 1996

November 1996

April 1997

November 1997

Oktober

1999

Pro

44

47

29

32

35

38

Contra

14

24

17

23

14

22

Würde nicht abstimmen

-

19

-

13

14

6

Unentschlossen

32

19

54

32

37

34

 

Bemerkenswert ist die Tatsache, daß der Anteil der Menschen, die der EU ablehnend gegenüberstehen, relativ stabil ist. Die wesentlichen "Neuverteilungen" finden sich beim Prozentsatz der "Unentschlossenen" und der Befürworter der EU. Das Sinken des Anteils der Befürworter war relativ kurzlebig und begründet durch einen Wechsel der euphorischen öffentlichen Meinung zur EU zu einer rationaleren Phase und einem damit einhergehenden "Wind des Euroskeptizismus".

Gleichzeitig kann man sagen, daß in vielen Bereichen aufgrund der Beschleunigung des EU-Beitritts ein Informationsvakuum entstanden ist. Da das Bedürfnis nach kompetenten Informationen schneller wächst als die Fähigkeit, diese zu liefern, fühlten sich die befragten Personen äußerst unsicher, was besonders deutlich im November 1996 zu sehen war.

Einen merklichen Mangel scheint es an Menschen zu geben, die imstande sind, sich kompetent mit dem Thema EU zu befassen. Trotzdem kann man feststellen, daß verglichen mit dem sog. "Durchschnitts-Esten" die die öffentliche Meinung beeinflussende Position der Eliten überwiegend Pro-EU ist. Es gibt Grund für die Prognose, daß sie als Meinungsführer, als in den Massenmedien das Wort ergreifende Menschen in der nahen Zukunft eine positivere Einstellung zur EU herausbilden werden.

Größtenteils geht es aber bei solchen Sorgen um Informationsmangel oder um Einstellungen vor allem zur Gewährleistung sozialer Garantien. Vorhersagen, daß in Estland in erster Linie in Fragen der Souveränität eine Anti-EU-Stimmung mit breiter Tragweite entsteht, haben sich nicht erfüllt und derartige Erscheinungen sind wissenschaftlich schwierig zu begründen. Die beschleunigte Bewegung Estlands in Richtung EU wird mit sehr großer Wahrscheinlichkeit in der näheren Zukunft (zwei bis drei Jahre) keine größeren Widerstände hervorrufen.

 

Der Vergleich der Untersuchungsergebnisse zahlreicher Soziologen zeigt, daß sich in den letzten Jahren sowohl das Interesse gegenüber der EU als auch die Informiertheit über die EU rasch verbessert haben. Die Wahl Estlands zum Beitrittskandidaten ist eine Veränderung mit grundlegender Bedeutung. Als Folge findet wahrscheinlich in der nächsten Zeit eine wesentliche Veränderung sowohl in der sogenannten Eurodiskussion als auch in der Basis der Wahlentscheidungen der Menschen statt. Die relativ linearen und eindimensionalen Entscheidungsschemata der Menschen werden durch sogenannte vielschichtige Wahlstrategien ersetzt, deren Ergebnisse schwerer vorherzusagen sind. Gerade aufgrund des Mangels an konkreten Informationen, welche die Wirtschaft, das Sozialsystem, die Arbeits(markt)ordnung etc. der EU betreffen, gibt es in Estland also noch zu breite Gesellschaftsschichten (vor allem unter den Jugendlichen), die noch keine Wahl treffen und ihre Position gegenüber der EU definieren konnten.

 

 

7. Hoffnungen und Ängste bei Esten und Russen

 

In den letzten Jahren kann in Estland ein positiver Trend in der Einstellung zur Europäischen Integration festgestellt werden. Dies kann zumindest partiell erklärt werden durch engere europäische Kontakte auf verschiedenen Ebenen und ein generell erhöhtes Europa-Bewußtsein in der Öffentlichkeit. Eine der ersten Studien in Estland über die Einstellung der Öffentlichkeit zur EU war eine detaillierte Studie des Zentrums für Ethnopolitik des Instituts für Internationale und Soziale Studien (IISS) im März 1996, welche die Prioritäten der EU in Estland untersuchte. Da das Thema der nationalen und ethnischen Identität einer der zentralen Punkte in der Einstellung Estlands zur EU ist, versuchte diese Studie zu klären, in welchem Ausmaß die Ängste und Hoffnungen, die Esten und Russen charakterisieren, eine ethno-politische Basis haben. Neue Informationen über die Spannungen, Erwartungen und Auffassungen verbunden mit der EU wurden bereitgestellt durch das Forschungsprojekt "Estland und die EU", welches in Kooperation von RASI und der estnischen Regierung durchgeführt wurde. Ein Ergebnis dieses Projektes war das Buch "Estland auf der Schwelle zur EU".

 

Schätzungweise die Hälfte der Befragten bewerteten den Beitritt zur EU als notwendig. Die Einstellung der in Estland lebenden Russen als größter in Estland lebender Gruppe von Nicht-Esten war positiver als die der Esten. Der Grund für den signifikanten Unterschied ist wahrscheinlich die Tatsache, daß die Russen (anders als die Esten) keine Angst vor den ethno-kulturellen Einflüssen bei der Integration Estlands als kleiner Nation in die EU haben.

Es war offensichtlich, daß die Angst um die eigene kulturelle Identität in einer EU ohne Grenzen zu der Zeit einen Großteil der estnischen Bevölkerung charakterisierte. Die Frage "Würde der Beitritt zur EU eine Auflösung Estlands in einem Europa ohne Grenzen mit sich bringen?" wurde von 42% der Esten und 21% der Russen positiv beantwortet. Diese und einige andere Unterschiede erlauben den Schluß, daß Russen die EU als ideale Zukunft für Estland ansehen. Das Problem ist hier nicht nur das eines Europas ohne Grenzen, welches äußerlich mit der administrativen Organisation der Sowjetunion übereinstimmt, wo es keine Grenzen zwischen den Teilrepubliken gab. Russen sehen die EU als Faktor, der eine politische Ordnung entwickelt, dank dessen alle Einwohner Estlands den gleichen Status erhalten durch die europäische Staatsangehörigkeit und wodurch die Russen folglich in gewisser Weise "befreit werden" von ihrem restriktiven Ausländerstatus in Estland.

Wenn Estland der EU beitreten sollte, hoffen jeder vierte junge Russe und jeder fünfte der älteren Generation, daß sie von diesem Beitritt ökonomisch profitieren werden, während die Hoffnungen der Esten zurückhaltender waren. Russen setzen die Entstehung eines stabilen Wirtschaftsraumes voraus und eine Steigerung der individuellen Wohlfahrt in Estland als Mitglied der EU.

Die Hoffnungen der Esten auf Sicherheitsgarantien, die mit dem Beitritt zur EU einhergehen, waren eindeutig klarer definiert als die Einstellungen der Russen. Esten sehen die Sicherheitsgarantien von Seiten der EU als Gewähr für die Erhaltung der nationalen Unabhängigkeit Estlands und der ethnischen Identität.

Es ist signifikant, daß die Hoffnungen bezüglich der zukünftigen Entwicklung Estlands in Verbindung mit der EU relativ hoch sind, dennoch lehnten die Hälfte der Russen und ein Drittel der Esten es ab, individuelle Fragen zur EU zu beantworten; sie begründeten dies mit einem Mangel an Information.