Der EU-Beitritt Estlands: Wirkungen,

Erwartungen und Interessen

Aksel Kirch, Iris Brökling

Einleitung: Die Europäische Union ist eine geschaffene demokratische Struktur. Aber gleichzeitig ist die EU auch eine "maschinenartige", größtenteils mechanische Struktur, die nicht automatisch Probleme und Verschiedenheiten berücksichtigt. Im Falle der Estnischen Republik ist es in jeder Hinsicht vorteilhaft, ein möglichst aktives Verhältnis zu den die Integration regulierenden zentralen Strukturen und Mechanismen zu schaffen. Wie man das tun kann, muß man wahrscheinlich der Intuition überlassen, weil die Untersuchungen auf dem Gebiet der europäischen Integration und die gesamten strategischen Ausarbeitungen aufgrund der großen Zurückgebliebenheit der Sozialwissenschaften, und vor allem der Politikwissenschaft gegenüber dem heutigen Erörterungsparadigma zurückgeblieben sind.

Der Beitritt zur EU wird auf jeden Fall begleitet von einem Riesenschritt Estlands bei der Institutionalisierung der europäischen Integration. Die als Integrationsmechanismen wirkenden Methoden der co-option, des Dialogs und gegenseitigen Verständnisses lassen die Strukturen der Zusammenarbeit offen und geben Estland mehrere Möglichkeiten, die eigene Zukunft zu gestalten. Aber wären nicht auch als konkrete Ergebnisse und Formen der Integration, der ergänzenden Verhandlungen und deren Mechanismen neue wesentliche Ressourcen zur Regulierungsfähigkeit der Selbstanalyse einer Gesellschaft. Ungeachtet der geringen Größe des Landes wächst sein allgemeines subjektivs Selbstverständnis als Teil der europäischen Integrationsstrukturen beträchtlich. Die Stabilität, Transparenz und Reflexionsfähigkeit der estnischen Gesellschaft wird größer.

Eine entscheidende Rolle beim Gelingen der Verhandlungen kommt den ausführenden Beamten zu. Heute ist man schon so weit gekommen, nicht nur die Kompetenz der estnischen Beamten anzuzweifeln, sondern auch die Loyalität v.a. gegenüber dem estnischen Staat. Die Behörden haben in der Tat die Neigung, sich zu entfremden und die Einstellung der estnischen Bürger zur Europäischen Union beginnt sich in vielem durch die Einstellung zu den eigenen "Eurokraten" herauszubilden .

Vom heutigen Standpunkt aus kann man sagen, daß der größte Prüfstein beim Beitritt Estlands zur EU und zugleich bei der Möglichkeit, das Abstimmen der estnischen Bürger vorauszusehen, der Mangel an Informationen ist - sowohl über die EU als auch über die Organisation der weiteren Verhandlungen. Der künftige europäische Bürger beginnt aber, diese beiden Punkte immer konkreter mit seinen alltäglichen Interessen und seiner Zukunft zu verbinden. Allgemeine sog. "Pro"- und "Contra"-Befragungen geben unter solchen Bedingungen nicht mehr die notwendigen detaillierten Informationen zur Lenkung der Prozesse. Das Eurobarometer braucht eine Vervollständigung in den aktuell akzentuierten Monitoring-Fragen, die Objekt der sich entwickelnden Eurodebatte sind.

Die wichtigsten Publikationen und Materialien zu diesem Essay.

1.„Estonia and the European Union", Preliminary Theses on Future Membership, Tallinn 1995: bereits 1995 wurde eine Strategie aufgestellt, die zum Beitritt Estlands in die EU führen soll. Eine Arbeitsgruppe der Regierung begleitete und koordinierte (1993-1996) den Integrationsprozeß.

2. "Eesti ja Euroopa Liit". Die letzte derartige (IV.) Konferenz in Tallinn fand Ende November 1997 statt, die nächste (von der Friedrich Naumann Stiftung veranstaltete) wird im November diesen Jahres veranstaltet.

3. "Eesti majandusülevaade. 1997- 1998". Eesti Vabariigi Mjandusministeerium. Tallinn 1998.

4.„Agricultural Development in Estonia. Options under EU Accession", Preliminary Conclusions and Recommendations: Dieses vom Deutschen Entwicklungsinstitut und dem Landwirtschaftsministerium Estlands herausgegebene Thesenpapier beschreibt die Entwicklung im Agrarbereich und die Perspektiven in diesem Sektor beim Beitritt zur EU.

5. "Costs, Benefits and Chances of Eastern Enlargement for the European Union". Bertelsmann Foundation. Research Group on European Affairs. Gütersloh 1998.

6. "Eesti Euroopa Liidu lävepakul" (Estland an der Schwelle zur Europäischen Union). Koostanud ja toimetanud Rein Ruutsoo ja Aksel Kirch. Eesti Teaduste Akadeemia Kirjastus (Verlag der Estnischen Akademie der Wissenschaften). Tallinn 1998.

 

1. Handelsliberalisierung:

 1.1 Zölle

Ein Vergleich des jetzigen Außenzolls mit dem EU-Außenzoll ist im Falle Estlands kaum möglich, da nur auf den wenigsten Importgütern Zölle liegen. Dies betrifft Pelze und verarbeitete Pelze (16% Importzoll), Yachten, Boote und andere Wasserfahrzeuge (z.B. Motor-Wasserski (10%) sowie Kraftfahrzeuge. Dabei richtet sich die Höhe des zu entrichtenden Zolls nach dem Alter und dem Hubraum des Wagens. („Estland: Marktchancen und praktische Tips", S. 72/73. Die Wirtschaft Estlands Anfang 1998; AGENDA 2000, S. 36)

Bei den Exporten sind in erster Linie „Güter mit kulturellem Wert" und Antiquitäten mit Zöllen belegt, zu letzteren zählen auch KFZ, die vor 1950 gebaut wurden. Für diese Güter wird ein Zollsatz von 100% erhoben und zusätzlich eine Erlaubnis für den Export dieser Güter verlangt.

Von EU-Seite sind in erster Linie landwirtschaftliche Produkte mit Importbeschränkungen belegt, auch im Rahmen des ursprünglichen Freihandelsabkommen war der freie Export im Agrarbereich auf tierische Produkte in der Milchwirtschaft beschränkt, der einzige Bereich, in dem einige Produkte (z.B. Milchpulver) den minimalen Hygienestandards der EU entsprachen (AGENDA 2000, S. 62).

Im März 1998 wurden nun bei einer Inspektion estnischer Molkereibetriebe durch eine Abordnung aus Brüssel die Hygienestandards beanstandet und als Konsequenz der Export aller estnischen Molkereiprodukte in EU-Mitgliedsstaaten verboten. (Die Milchpulver-Exporte nach Brasilien, die einen großen Teil der Gesamtexporte der Molkereien ausmachen, sind davon allerdings nicht betroffen). Auswirkungen hatte das Importverbot in die EU aber auf die Handelsbeziehungen zu anderen Ländern: zumindest im Gespräch ist ein Exportverbot für Molkereiprodukte nach Rußland und in die Ukraine, sofern kein EU-Zertifikat vorliegen sollte. Besonders im Fall des Exports in die Ukraine ist diese eventuelle Handelsbeschränkung tragisch, da der Export von Molkereiprodukten den größten Anteil am Gesamtexport in die Ukraine ausmacht.

Die Preiselastizität der EU-Importnachfrage kann bei den mit Beschränkungen belegten Produkten als gering angesehen werden. Zur Illustration des Stellenwertes einzelner Warengruppen im estnischen Außenhandel sind in der folgenden Tabelle 1 die wichtigsten estnischen Importe (und Exporte) im Jahr 1997 nach Warenklassen dargestellt.

 

Tabelle 1 Wichtigste estnische Importe und Exporte 1997 nach Warenklassen in %

Warenklassen

Exporte

Importe

Maschinen, Anlagen

17,1

22,0

Lebensmittel, lebende Tiere

16,3

16,5

Transportmittel

7,7

12,1

Mineralprodukte

6,4

8,4

Chemieprodukte

7,8

8,2

Metalle, Metallartikel

6,6

7,8

Textilien

11,5

7,5

Holz, Holzprodukte, Papier, Möbel

17,5

6,1

Quelle: Estnisches Statistikamt No 1(73), 1998

 

Im gesamten Jahr 1997 wurden Waren im Wert von 61,325 Mio. EEK nach Estland importiert. Die Exporte beliefen sich auf 40,408 Mio. EEK. Das Handelsbilanzdefizit erreichte 1997 eine Rekordhöhe von 20,917 Mio.EEK.

 

Tabelle 2 Estnisches Außenhandelsvolumen 1993 bis 1997 in Mrd. EEK

Jahr

Gesamt

 

Export

 

%

 

Import

 

%

 

Bilanz

1993

22,4

10,6

47,3

11,8

52,7

-1,2

1994

38,4

16,9

44,0

21,5

56,0

-4,6

1995

50,2

21,1

42,0

29,1

58,0

-8,0

1996

63,9

25,0

39,1

38,9

60,9

-13,9

1997

101,7

40,4

39,7

61,3

60,3

-20,9

 

 

 

 

 

 

 

Quelle: ESA Pressiteade, Nr 11, 18.02. 1998

 

Der Anteil des Imports am Außenhandel lag demzufolge bei ca. 60%, der des Exports bei ca. 40%. Bei den Exporten spielen Re-Exporte eine wichtige Rolle: 1994 lag der Anteil der Re-Exporte an den gesamten Exporten noch bei nur 8%, stieg jedoch bis 1997 auf 27% an.

Die wichtigsten Außenhandelspartner Estlands sind Finnland und Rußland. Insbesondere Rußland nimmt sowohl bei den Importen als auch bei den Exporten erneut eine führende Stellung ein, nachdem der Anteil in den letzten Jahren von 22,6% (1993) auf 16,6% (1996) gesunken war. 1997 gingen 18,8% aller estnischen Exporte nach Rußland (vor Finnland mit 15,7%).

Insgesamt ist bei der Analyse der Entwicklung des estnischen Außenhandels zu beachten, daß aufgrund schwankender Import- und Exportpreise und unbeständiger Warenklassifizierungen ein Vergleich der Zahlen schwierig sein kann. Man hat deshalb bisher noch keine Warenklassen mit Außenhandelsindex errechnet, der durchschnittliche Preisveränderungen anzeigt, die Angaben zum Außenhandel werden in laufenden Preisen angegeben.

Im Außenhandel werden über 5000 Handelsartikel verzeichnet, aber Estland importiert und exportiert fortlaufend nur einige wenige davon (wie elektrische Energie, Holz, Zement, mineralische Brennstoffe etc.). (ESA Pressiteade, Nr 11, 18.02. 1998)

 

1.2 Budgetwirkungen:

Da wie dargelegt bei den Importen nach Estland nur für wenige Produkte Zölle erhoben werden, ist der Anteil der Zölle an den Staatseinnahmen sehr gering. Die ist auch in der folgenden Tabelle zu sehen, in der die Staatseinnahmen auf staatlicher und lokaler Ebene jeweils im 1. Quartal 1996, 1997 und 1998 (respektive) dargestellt sind.

 

Tabelle 3 Staatsbudget und Einnahmen aus lokalen Budgets in Mio EEK

 

 

Staatsbudget

Lokalbudgets

Staatsbudget

Lokalbudgets

Staatseinnahmen

Lokalbudgets

01.03.96

01.03.96

01.03.97

01.03.97

01.03.98

01.03.98

Lohnsteuer (Individuen)

684,3

-

365,2

486,5

424,9

551,7

Einkommenssteuer (Unternehmen)

162,8

-

130,4

-

178,5

-

Umsatzsteuer

656,5

-

801,6

-

872,6

-

Verbrauchssteuer

188,7

-

329,2

-

248,9

-

Alkoholsteuer

116,4

-

151,1

-

143,1

-

Tabaksteuer

37,0

-

63,3

-

19,7

-

Mineralölsteuer

27,9

-

107,4

-

76,9

-

KFZ-Steuer

7,4

-

7,4

-

8,6

-

Verpackungssteuer

-

-

-

-

0,6

-

Grundsteuer

-

9,5

-

14,7

-

15,8

Glücksspielsteuer

12,1

-

15,0

1,3

16,9

0,5

Zollsteuer

0,1

-

0,0

-

0,0

-

Lokale Steuern

-

1,6

-

4,6

-

5,6

Staatsgebühren

28,4

0,2

45,6

0,2

49,4

0,2

Vermögenssteuer

18,7

28,5

19,1

35,1

18,3

40,1

Andere Einnahmen*

168,3

650,9

51,1

440,2

78,5

468,4

INSGESAMT

1 919,9

690,7

1 757,2

982,6

1 888,0

1 082,3

 

* Die Kategorie „Andere Einnahmen" enthält auch Hilfen aus anderen Budgets und Darlehen

 

 

Tabelle 4 Staatsbudget und lokale Ausgaben in Mio EEK

 

 

Staatsbudget

Lokalbudgets

Staatsbudget

Lokalbudgets

Staatsbudget

Lokalbudgets

01.03.96

01.03.96

01.03.97

01.03.97

01.03.98

01.03.98

Staatsverwaltung

123,2

72,8

190,8

84,6

229,7

100,9

Verteidigung und Schutz der Öffentlichen Ordnung

256,2

2,8

331,4

3,0

336,2

3,3

Soziales

631,2

336,9

757,7

396,8

880,1

513,7

Bildung, Kultur und Wissenschaft

325,5

303,5

456,8

330,6

512,6

407,4

Sozialfürsorge

266,5

23,9

281,9

61,0

336,1

96,1

Gesundheit

39,2

9,5

19,0

5,2

31,4

10,2

Wirtschaft

247,5

115,1

238,1

146,9

290,6

142,6

Anderes**

558,6

27,2

218,4

30,4

210,5

93,8

INSGESAMT

1 816,7

554,8

1 736,4

661,7

1 947,1

854,3

 

** Beinhaltet auch Hilfen aus anderen Budgets, Darlehen und Darlehensrückzahlungen

NB! Entsprechend des Budgetgesetzes ging die Lohnsteuer (Individuen) 1996 komplett in das Staatsbudget ein. Aus diesem wurden 56% an lokale Budgets übertragen

 

1.3 Nichttarifäre Handelshemmnisse

Administrative Hemmnisse (wie Hinterlegung von Devisen, Lizenzen oder Nachweise, daß es keine einheimischen Anbieter für die Importprodukte gibt) betreffen in Estland Metalle und Edelmetalle, Benzin, Alkohol, Tabak und Tabakerzeugnisse, Medikamente und Pharmaka, Waffen, Munition und explosive Gegenstände sowie Privatwagen. Für diese Produkte sind Lizenzen notwendig. Privatpersonen dürfen außer dem im Tank befindlichen Benzin nicht mehr als 20 Liter und 5 Liter Motoröl nach Estland einführen. Bei anderen Waren gibt es keine mengenmäßigen Begrenzungen, außerdem wird nicht nach Herkunft der Importprodukte differenziert.

 

1.4 Sektorwirkungen

Tabelle 5 Entwicklung einzelner Branchen in % vom BIP zu laufenden Marktpreisen

Branchen

1992

1993

1994

1995

1996

1997

Landwirtschaft und Forsten

12,8

10,4

8,3

6,7

6,0

5,8

Fischerei

0,7

0,7

0,5

0,4

0,4

0,5

Bergbau

2,5

1,9

1,6

1,6

1,4

1,1

Verarbeitende Industrie

22,7

19,0

16,7

14,9

13,8

15,1

Energiesektor

4,4

3,5

2,9

3,6

3,7

3,2

Bausektor

4,9

6,6

5,6

4,7

5,2

4,8

Handel

14,5

17,0

15,8

16,4

15,4

15,7

Hotels und Gaststätten

1,7

1,8

1,2

1,0

1,3

1,1

Transport und Kommunikation

14,1

12,4

8,2

8,9

9,2

10,4

Finanzsektor

2,4

2,8

2,8

3,1

3,7

4,6

Sonstige (Bildung, Verwaltung ...)

19,3

23,9

36,4

38,7

39,9

25,9

(Die Wirtschaft Estlands Anfang 1998. AHK Tallinn 1998. Zahlen für 1997 aus ESA News Release No 47, S. 3)

Tabelle 5 zur Entwicklung einzelner Branchen seit 1992 läßt einen steten Rückgang bei der Bedeutung der Landwirtschaft erkennen. Dieser wird sich vermutlich auch in der Zukunft fortsetzen. Sektoren, bei denen mit Nachfragezuwächsen zu rechnen ist, sind Transport und Kommunikation, der Bausektor sowie Handel und Dienstleistungen. Der Anteil des Finanzsektors in % vom BIP ist in den letzten Jahren stetig angestiegen, allerdings lassen sich in jüngster Zeit erste Anzeichen einer „Bankenkrise" beobachten (Fusionen, Liquiditätsprobleme durch zu extensive Vergabe von Krediten etc.).

Die verarbeitende Industrie zeigt sich erholt (v.a. bei Papier, Möbel- und Holzverarbeitung; Textil- und Bekleidungsindustrie; Elektronik). Bei den anderen Branchen ist eine Prognose über die zukünftige Entwicklung schwierig, da die Zahlen der letzten Jahre kein klares Bild ergeben.

 

1.5 Regionale Wirkungen

Wie auch generell eine Konzentration der Wirtschaftsaktivität auf Tallinn und die nähere Umgebung zu verzeichnen ist, findet sich auch bei den Erfolgs- und Krisenbranchen eine solche Tendenz. Erfolgsbranchen wie der Finanzsektor, Handel und Dienstleistungen und Transport und Kommunikation sind in Tallinn und Umgebung angesiedelt. Bergbau wird in erster Linie in Nordost-Estland (Ölschiefer) betrieben. Die Krisenbranchen Landwirtschaft und Forsten konzentrieren sich auf den Süden Estlands.

 

2. Liberalisierung der Kapitalströme:

 

2.1 Ausländische Direktinvestitionen

Das Land hat nach Ungarn von allen mittel- und osteuropäischen Ländern die meisten ausländischen Direktinvestitionen pro Kopf der Bevölkerung angezogen (seit 1993 1142 DM). Bis zum Ende des 3. Quartals 1997 waren insgesamt ausländische Investitionsgelder in Höhe von 13.7 Mrd. EEK (1,7 Mrd. DM) ins Land geflossen. Die Aufteilung nach Branchen, in die bevorzugt investiert wurde, zeigt die folgende Tabelle.

Tabelle 6 Ausländische Direktinvestitionen in tausend EEK

nach Branchen, Ende III. Quartal 1996

Wirtschaftssektor

EEK (in tausend)

In % 1996 1997

Landwirtschaft

24.5146,8

2,63 1

Fischerei

6.644,256

0,07

Bergbau

7.590,8

0,08

Industrie

4.146.451,3

44,44 37

Energiewirtschaft

2.582,8

0,03

Bausektor

53.372,9

0,57 1

Handel

2.386.716,16

25,58 21

Hotels und Gaststätten

190.274,1

2,04 2

Transport, Lagerhaltung

1.460.453,4

15,65 12

Finanzsektor

361.014,9

3,87 16

Verwaltung, Militär

529,5

0,01

Immobiliensektor

337.046,6

3,61 6

Ausbildung

13.279,0

0,14

Gesundheitswesen

623,8

0,01

Sonstiges

119.474,3

1,27 4

Insgesamt

9.331.200,6

100 100

(Estland: Marktchancen und praktische Tips. 1997) (siehe Eesti Majandusülevaade, Tallinn, 1998 S. 37, Gesamtzahlen, S. 36)

 

Bei den Regelungen für ausländische Direktinvestitionen gilt das Prinzip der Gleichstellung, d.h. ausländische Investoren werden nicht diskriminiert, was den Steuersatz von 26% (linear), den Erwerb von Grund und Boden und die Gründung bzw. die Übernahme eines Unternehmens angeht.

Die Berechtigung ausländischer Personen, auf estnischem Gebiet unternehmerisch tätig zu werden, entsteht durch die Eintragung ins estnische Handelsregister und ist beschränkt auf den eingetragenen Geschäftsgegenstand. Mit der Bundesrepublik Deutschland besteht ein Investitionsschutzabkommen (Inländerbehandlung, Meistbegünstigung bei unternehmerischen Aktivitäten, Entschädigungspflicht und Rechtsweggarantie bei Enteignungsmaßnahmen, Recht des freien Kapitaltransfers und Ertragstransfers sowie Rechtsschutz und Vereinbarung von internationaler Schiedsgerichtsbarkeit bei Investitionsstreitigkeiten). (Estland: Marktchancen und praktische Tips. 1997).

 

Im Immobilienbereich ist es prinzipiell allen natürlichen und juristischen Personen erlaubt, Grund und Boden bzw. Gebäude zu erwerben. Einen Sonderfall bilden die Inseln und die Grenzgebiete, wo es Ausländern oder ausländischen juristischen Personen nicht erlaubt ist, Land zu besitzen (Agenda 2000, S. 38).

Bei der Eigentumsübertragung von Immobilien sind die estnische Regierung und die zuständige Kommune genehmigungspflichtig. Wichtig ist außerdem der Rechtsstatus der Immobilie, d.h. Fragen nach der Privatisierung des Landes (abgeschlossen oder noch bevorstehend), nach den Eigentumsverhältnissen (Staatseigentum oder kommunales Eigentum) und nach einer eventuell laufenden Rückgabeforderung müssen geklärt werden.

Falls der Restitutionsprozeß noch nicht abgeschlossen ist, muß dessen Verlauf abgewartet werden. Weiterhin spielt eine Rolle, ob das Grundstück bebaut oder unbebaut ist. In einigen Fällen kann es vorkommen, daß ein Verkauf des Gebäudes genehmigt wird, ein Verkauf des Grundstücks nicht. Dann besteht allerdings häufig die Möglichkeit, dieses zu pachten (auf max. 99 Jahre). Im neuen Sachenrechtsgesetz ist aber eine Einheit von Grund- und Gebäudeeigentum vorgesehen. Die Eintragung ins Grundbuch erfolgt durch notarielle Beurkundung und Registrierung des Kaufvertrages im Liegenschaftsverzeichnis. (Estland: Marktchancen und praktische Tips. 1997)

 

Was die Besitzrechte angeht, so ist die momentane Regelung nicht stabil und die Gesetze könnten z.B. bei einem evtl. Regierungswechsel geändert werden.

Das Voranschreiten der Landreform kann als generell langsam bezeichnet werden, was auch daran liegt, daß es zum ursprünglichen Landreformgesetz von 1991 18 „Nachbesserungen" gegeben hat, was die Landreform weiter verlangsamt hat. Außerdem hat sich seit 1994 der Kreis der Personen, die die Rückgabe von Land beantragen können, wesentlich vergrößert, da nun auch entfernte Verwandte den entsprechenden Antrag stellen können.

Gesperrte Branchen für ausländische Investoren sind die Rüstungsindustrie und bedingt Versorger.

 

2.2 Verschuldung

Die Höhe der Auslandsschulden belief sich 1997 nach bisherigen Schätzungen auf 340 Mio. US-$, was 7% des BIP ausmacht. (ca. 5,1 Mrd. EEK, was 30 - 35 % des Staatsbudgets entspricht). Bei Einbeziehung des Privatsektors ergibt sich eine Auslandsverschuldung von ca. 500 Mio. US-$ für 1997. 1998 wird ein Ansteigen des Wertes auf ca. 600 Mio. US-$ erwartet.

Was die Höhe der Inlandsverschuldung angeht: die Estnische Zentralbank ist nicht die Hausbank des Staates, wodurch die Regierung zu einer äußerst sparsamen Haushaltspolitik gezwungen wird. Der Zentralbank (Eesti Pank) ist es laut Gesetz verboten, Kredite an die Staatsregierung oder an kommunale Verwaltungen oder sonstige Behörden zu vergeben. Die Staatsbank ist der Regierung gegenüber nicht weisungsgebunden, es besteht lediglich eine Berichtspflicht gegenüber dem Parlament. Weder die Zentralbank noch die Staatsregierung haben ein Mandat, aktive Geldpolitik zu betreiben. Außerdem verbietet die Verfassung ein Defizit im Staatshaushalt. Deshalb gab es in den letzten Jahren sogar leichte Haushaltsüberschüsse (Estland: Marktchancen und praktische Tips. 1997, S. 68).

 

Die Währungsreserven lagen im Dezember 1997 bei ca. 770 Mio. US-$ (673 Mio. US-$ Ende 1996) (Die Wirtschaft Estlands Anfang 1998, Die Wirtschaft Estlands Anfang 1998. AHK Tallinn, Tabelle 1).

Ca 10% dieser Summe wurden als eine Art „Krisensicherung" an ausländische Banken in anderen westlichen Ländern übertragen.

 

2.3 Kapitalmärkte

 

Privatpersonen können Devisenkonten bei einheimischen Banken und im Ausland eröffnen. 1994 wurde jede Art von Devisenkontrolle abgeschafft. Bezüglich der Konvertierung von Devisen und Zahlungen zwischen estnischen und ausländischen Einrichtungen gelten keine Beschränkungen. (Agenda 2000, S. 19, S. 38).

 

3. Freizügigkeit:

3.1 Brain drain

Von den Personen im arbeitsfähigen Alter arbeiten ca. 10% im Ausland, v.a. in Schweden und in Finnland. Diese Möglichkeit nutzen auch viele Ärzte, da diese Berufsgruppe zu den am schlechtesten bezahlten gehört (siehe Tabelle 7). Die Arbeit im Ausland ist dabei meistens an Zeitverträge von zwei bis drei Jahren Dauer gebunden. In Finnland leben und arbeiten insgesamt ca. 10.000 Esten, wobei in dieser Zahl auch Pensionäre enthalten sind ebenso wie Personen, die mit Finnen/Finninnen verheiratet sind.

Auch im Bildungsbereich gibt es viele Beispiele für eine zeitweilige Arbeit im Ausland, auch hier vorzugsweise in Finnland (aufgrund der sprachlichen und räumlichen Nähe). Das Einkommen eines Lehrers oder eines Universitätsprofessors in Estland beträgt nur einen Bruchteil des Gehaltes, das in Finnland für eine vergleichbare Tätigkeit gezahlt wird.

 

 

3.2 Arbeitsmarkt

Bei der Beurteilung der Situation auf dem Arbeitsmarkt muß man die hohe verdeckte Arbeitslosigkeit miteinbeziehen, die in den offiziellen Zahlen meist nicht zum Ausdruck kommt. Der Grund für einen hohen Anteil an Personen, die sich nicht arbeitslos melden, liegt v.a. in der sehr niedrigen Arbeitslosenunterstützung, die staatlicherseits gewährt wird (ca. 45 DM für drei Monate (Spiegel 42/97).

Die offiziell verkündeten Zahlen sind unglaubwürdig: für 1997 wurde die Quote der Personen, die Arbeitslosenhilfe beziehen, mit 2,3% angegeben, die Zahl der Arbeitssuchenden im arbeitsfähigen Alter mit 3,8%. Realistisch bei letzteren ist allerdings eine Quote von ca. 8-10%. Bei der Berechnung der tatsächlichen Arbeitslosigkeit kommt erschwerend hinzu, daß dort die Arbeiter der großen, noch nicht privatisierten Staatsbetriebe noch nicht miteinbezogen sind, die de facto arbeitslos sind. Die Privatisierung steht noch bei den großen Infrastruktureinrichtungen wie der estnischen Eisenbahngesellschaft (Eesti Raudtee) und der Telefongesellschaft Eesti Telefon aus. Daneben sollen 1998 die Alkoholdestillerie Liviko, das Ölschieferunternehmen Eesti Põlevkivi und das Energieunternehmen Eesti Energia privatisiert werden (Die Wirtschaft Estlands Anfang 1998. AHK Tallinn, S.5).

Für den 1. April 1998 wurde nach Angaben des Staatlichen Arbeitsmarktamtes der Anteil der registrierten Arbeitslosigkeit mit 2,4% angegeben (registrierte Arbeitslose im Verhältnis zur arbeitsfähigen Bevölkerung zwischen 16 und der Pensionierung). Die Arbeitslosenquote wurde für das zweite Quartal 1997 mit 10,5% veranschlagt. Also scheint man mittlerweile der bestehenden Diskrepanz zwischen der Zahl der registrierten Arbeitslosen und der Arbeitslosenquote Rechnung zu tragen.

Die Lohnunterschiede einerseits zwischen den verschiedenen Berufsgruppen und andererseits zwischen den einzelnen Regionen des Landes sind sehr prägnant, was die beiden folgenden Tabellen veranschaulichen. Am besten bezahlt sind danach mit weitem Vorsprung die Angestellten im Bankensektor, am unteren Ende der Skala finden sich die in der Landwirtschaft und Jagd Tätigen sowie die Angestellten im Hotel- und Gaststättengewerbe.

 

Tabelle 7 Bruttolöhne und -gehälter im IV. Quartal 1997 nach Branchen:

Branchen

Pro Monat in EEK (DM)

Pro Stunde in EEK (DM)

Landwirtschaft und Jagd

2,202 (275,25)

12,64 (1,58)

Hotels und Gaststätten

2,426 (303,25)

14,22 (1,78)

Andere staatliche, soziale und persönliche Dienste

3,224 (403,00)

17,78 (2,22)

Bildungswesen

3,267 (408,37)

18,31 (2,28)

Gesundheitswesen und Sozialarbeit

3,479 (434,87)

18,06 (2,26)

Groß- und Einzelhandel, Reparaturdienstleistungen

3,515 (439,37)

19,92 (2,49)

Verarbeitende Industrie

3,898 (487,25)

22,74 (2,84)

Durchschnittslohn

4,027 (503,37)

22,49 (2,81)

Bausektor

4,068 (508,50)

23,62 (2,95)

Forstwirtschaft

4,634 (579,25)

25,18 (3,15)

Fischerei

4,806 (600,75)

27,13 (3,39)

Transport, Lagerhaltung, Kommunikation

4,905 (613,12)

26,43 (3,30)

Öffentliche Verwaltung und Verteidigung, Sozialversicherung

4,926 (615,75)

25,32 (3,16)

Versicherungen, Makler und Geschäftsdienstleistungen

5,133 (641,62)

28,65 (3,58)

Elektrizität, Gas, Wasser

5,262 (657,75)

28,23 (3,53)

Bergbau usw.

5,335 (666,87)

30,52 (3,81)

Finanzsektor

8,463 (1057,87)

46,22 (5,78)

Quelle: Estnisches Statistikamt 2/98, S.38

 

Bei der Aufgliederung der Bruttolöhne und -gehälter nach unterschiedlichen Regionen zeigt sich erneut die Vorrangstellung der Hauptstadt Tallinn und der umliegenden Landkreise. Am schlechtesten verdienen die Einwohner der Landkreise Valga und Võru in Süd-Estland.

 

Tabelle 8 Durchschnittliche Bruttolöhne und -gehälter nach Landkreisen

im IV. Quartal 1997

Stadt/Bezirk

Pro Monat in EEK (DM)

Pro Stunde in EEK (DM)

Valga

2,960 (370,00)

16,43 (2,05)

Võru

3,016 (377,00)

16,81 (2,10)

Saare

3,070 (383,75)

17,53 (2,19)

Põlva

3,143 (392,87)

17,68 (2,21)

Pärnu

3,165 (395,62)

17,98 (2,25)

Jõgeva

3,181 (397,62)

16,52 (2,065)

Viljandi

3,221 (402,62)

17,86 (2,23)

Järva

3,239 (404,87)

17,66 (2,21)

Lääne-Viru

3,301 (412,62)

18,57 (2,32)

Lääne

3,395 (424,37)

18,49 (2,31)

Rapla

3,407 (425,87)

19,73 (2,47)

Ida-Viru

3,584 (448,00)

19,55 (2,44)

Tartu

3,601 (450,12)

20,34 (2,54)

Hiiu

3,619 (452,37)

19,64 (2,45)

Harju (Bezirk um Tallinn)

4,809 (601,12)

26,90 (3,36)

Tallinn

4,937 (617,12)

27,54 (3,44)

Quelle: Estnisches Statistikamt 2/98, S. 40

 

Die durchschnittliche Monatsrente lag Anfang März 1998 bei 1,254 EEK (157 DM).

 

3.3 Rücküberweisungen von Gastarbeitern

Bei den Rücküberweisungen von Gastarbeitern sind offizielle Zahlen schwierig zu ermitteln.

 

4. Wirtschaftspolitische Einbindung:

 

4.1 Industriepolitik

Subventionen werden indirekt in der Landwirtschaft vergeben (siehe 5.1), in anderen Wirtschaftsbereichen gibt es keine finanziellen Unterstützung von staatlicher Seite.

 

4.2 Fiskalpolitik

Da die estnische Verfassung ein Defizit im Staatshaushalt ausdrücklich verbietet, hat es in den letzten Jahren sogar leichte Haushaltsüberschüsse gegeben. (Estland: Marktchancen und praktische Tips. 1997, S. 68). Die Auslandsverschuldung wurde bereits in Kapitel 2.2 aufgeführt.

 

 

Für Kredite mit einer Laufzeit von bis zu einem Jahr lag der Zinssatz 1997 bei durchschnittlich 13-15%. Allerdings gab es im Jahresverlauf bedingt durch den „Börsenkrach" Ende Oktober große Schwankungen: Mitte 1997 mußte man nur 6-8% für kurzfristige Kredite zahlen, im Dezember 1997 hatte sich dieser Wert auf 16% erhöht. Bei längerfristigen Krediten galt im Dezember 1997 ein durchschnittlicher Prozentsatz von 10,8% (Die Wirtschaft Estlands Anfang 1998, S. 4).

 

5. Agrarpolitik:

5.1 Finanztransfers

 

1996 (für 1997 fehlen vergleichende Angaben) lag die Höhe der Erzeugersubventionen bei 7%, in den EU-Mitgliedsstaaten waren es durchschnittlich 36%. Bisher ist in der estnischen Landwirtschaft eine sehr liberale Politik verwirklicht worden (keine Zölle, keine Zugangsbeschränkungen). Ungeachtet dessen, daß das Parlament mehrere Gesetze entgegengenommen hat, in denen eine Erhöhung der Unterstützung für Landwirte vorgesehen ist, sind diese bisher nur in sehr geringem Umfang angewendet worden. Im Staatsbudget waren 1997 für das Landwirtschaftsministerium 311,6 Mio. EEK vorgesehen, was 2,5% des Gesamtbudgets ausmachte. Im Staatshaushalt 1998 betragen die Ausgaben des Landwirtschaftsministeriums 558,1 Mio. EEK (3,7% der Gesamtausgaben). Der Anstieg resultiert daraus, daß man seit Beginn des Jahres den landwirtschaftlichen Erzeugern Direktsubventionen nach Zahl der Milchkühe und der Anbaufläche für Getreide und Hülsenfrüchte zahlt. Allein dafür sind im Budget 190 Mio. EEK vorgesehen. Als partielle Entschädigung für indirekte Verbrauchssteuern auf Motorkraftstoffe sind 89 Mio. EEK eingeplant, für das Kalken saurer Böden 14 Mio. EEK.

Das wichtigste Instrument zur Vergabe von (finanzieller) Unterstützung in der Landwirtschaft und für in den ländlichen Gebieten tätige Unternehmen ist der „Kreditfonds für Landwirtschaft und Landleben" (Põllumajanduse ja Maaelu Krediteerimise Fond), welcher vergünstigte Kredite und Unterstützung für Unternehmen gewährt. 1998 stellte man für diesen Fonds 97 Mio. EEK zur Verfügung, davon sind 52 Mio. EEK für finanzielle Unterstützung, 20 Mio. EEK für die Kompensierung von Kreditzinsen und 25 Mio. EEK für die Kreditgewährung gedacht.

 

Schätzungsweise sind für Investitionen in die Technologie in der Landwirtschaft pro Jahr 1,2 bis 1,4 Mrd. EEK nötig. Tatsächlich investiert wurden 1996 in Kapitalgüter nur 106,6 Mio. EEK (darunter für Geräte, Maschinen und zum Erwerb von Inventar und Transportmitteln 73,4 Mio. EEK), 1997 lagen die entsprechenden Zahlen bei 108,9 bzw. 80,7 Mio.EEK (Eesti majandusülevaade, S. 74/75).

 

5.2 Strukturanpassung

 

Der Getreideertrag könnte sich mittelfristig erholen und die Betriebe könnten dann rentabel arbeiten (siehe Tabelle 9, Quelle: ESA Statistical Yearbook of Estonia 1997, S. 222ff). Estland hat zudem das Potential, die Tierproduktion zu steigern. Die estnischen Möglichkeiten, die eigenen Milcherzeugnisse und die Tierproduktion in die EU zu exportieren, lassen sich dann ausschöpfen, wenn eine Entsprechung mit den Qualitäts- und Hygienestandards der EU erreicht wird. Aufgrund der „Aufgeblähtheit" und veralteten Technologie ist dieser Sektor hinter der allgemeinen Erneuerung zurückgeblieben.

Tabelle 9 Landwirtschaftliche Bruttoproduktion 1994-1996 in Mio. EEK

 

1994

1995

1996

Unternehmen

 

 

 

Getreide

897,1

815,6

840.0

Vieh

2025,8

1934,7

1747,1

Brutto

2922,9

2750,3

2587,1

 

 

 

 

Haushalte und private Farmen

 

 

 

Getreide

1744,0

2031,7

1884,6

Vieh

1289,6

1185,7

1117,2

 

Brutto

3033,6

3217,4

3001,8

 

 

 

 

INSGESAMT

 

 

 

Getreide

2641,1

2847,3

2724,6

Vieh

3315,4

3120,4

2864,3

Brutto

5956,5

5967,7

5588,9

 

5.3 Größenklassenwirkungen

1997 gab es in Estland 22 722 Bauernhöfe und 854 landwirtschaftliche Unternehmen - GmbH's, Aktiengesellschaften und Staatswirtschaften. (Eesti majandusülevaade, S. 72).

 

Durch die Restitution von Landbesitz sind viele kleine, relativ unrentable Bauernhöfe entstanden. Deren durchschnittliche Größe betrug 1996 23 Hektar. In den letzten Jahren hat sich die durchschnittliche Größe verringert.

Insgesamt gibt es ca. 1,5 Mio. Hektar landwirtschaftlich nutzbare Fläche, 800.000 Hektar Wald plus landwirtschaftlich schlecht nutzbare Flächen. Insgesamt beträgt die Gesamtfläche des Agrarlandes 2.5 Mio. Hektar. Durch den Privatisierungsprozeß, den der Agrarsektor gerade durchläuft, sind Veränderungen in der Struktur und Größe der landwirtschaftlichen Betriebe entstanden. Die großen Wirtschaftsbetriebe (frühere Sowchosen mit einer durchschnittlichen Größe von 520 Hektar) bewirtschaften 30% des Agrarlandes, während die restlichen 70% sich zu gleichen Teilen auf die 14.500 Familienwirtschaften (durchschnittlich 23 Hektar) und kleinere Höfe mit einer durchschnittlichen Größe von weniger als zwei Hektar aufteilen.

Die gesetzlichen Eigentümer des Landes haben die Rückgabe von 1,2 Mio. Hektar Land beantragt. Im Mai 1997 waren 500.000 Hektar (42%) zurückgegeben und im Landregister (Grundbuch) eingetragen worden. Die Rückgabe soll bis zum Jahr 2000 beendet sein.

850.000 Hektar Land wurden nicht zurückgefordert und bleiben vorerst in staatlichem Besitz, werden aber verpachtet. (AGENDA 2000, S. 16, S. 61)

 

6. EU-Strukturfonds:

6.1 Staatshaushalt. Voraussichtliche Höhe der Transfers unter heutigen Regeln wird 10% und wird in Vergleich mit entsprechenden Positionen (Investitionsausgaben) des Staatshaushalts.

In den letzten Monaten ist in Estland eine Diskussion aufgekommen über 10-13% Defizit in Staatshaushalt. Nach Meinungen von Experten diese Lage ist normal für Estland ("Äripäev", 10. Juni 1998).

 

6.2 Regionalstruktur

Es gibt in Estland 254 lokale Selbstverwaltungen, wobei in der Zukunft eine Zusammenlegung geplant ist, um effektiver arbeiten zu können (zunächst auf freiwilliger Basis).

 

7. Politik und Gesellschaft:

Untersuchungen, die die Osterweiterung der EU und die Alternativen Estlands sowie die öffentliche Meinungsbildung widerspiegeln, entsprechen nicht den Standards, die den Prozeß transparenter machen und sich rational auswirken würden; sie sind aber besonders häufig durchgeführt worden. Obwohl wir es grundsätzlich mit einer politisch bereits sehr festgelegten Entscheidung zu tun haben, ist zu deren Umsetzung vom Standpunkt der estnischen Stabilität her gesehen trotzdem eine möglichst hohe Legitimität wichtig.

Die Informiertheit der estnischen Bürger über Fragen der EU und ihre Reaktion auf Informationen stellt keinen linearen Prozess dar - d.h. mit einer besseren Informiertheit geht nicht automatisch auch eine vorhersagbare Änderung der Einstellung einher.

Die in Tabelle 10. zusammenfassend dargestellten Angaben bestätigen, daß vor eineinhalb Jahren ein plötzlicher Umschwung in der Einstellung der estnischen Bevölkerung stattgefunden hat, den man als mit dem größeren Maßstab der "Euroinformationen" einhergehenden Durchstoß bezeichnen könnte. Das kam in einer plötzlichen Verringerung der "Ja-Stimmen" im Falle eines Referendums zum EU-Beitritt zum Ausdruck. Die Erklärung ist folgende: im Kontext einer abstrakten Beitrittsperspektive war es relativ einfach, eine scheinbar zustimmende Haltung einzunehmen, in einer schon konkreteren Wahlsituation zögerte man.

Tabelle 10. Wenn morgen ein Referendum zum Beitritt Estlands

zur EU stattfinden würde, wie würden Sie abstimmen?

Ich würde ... abstimmen

November 1995

April 1996

November 1996

April 1997

Oktober 1997

November 1997

Pro

44,0

47,0

29,0

32,0

40,3

35,0

Contra

14,0

24,0

17,0

23,0

22,3

14,0

Würde nicht abstimmen

-

19,0

-

13,0

37,0

14,0

Unentschlossen

32,0

19,0

54,0

32,0

0,4

37,0

 

Bemerkenswert ist die Tatsache, daß der Anteil der Menschen, die der EU ablehnend gegenüberstehen, relativ stabil ist. Die wesentlichen "Neuverteilungen" finden sich beim Prozentsatz der "Unentschlossenen" und der Befürworter der EU. Das Sinken des Anteils der Befürworter war relativ kurzlebig und begründet durch einen Austausch der euphorischen öffentlichen Meinung zur EU durch eine rationalere Phase und einem damit einhergehenden "Wind des Euroskeptizismus".

Gleichzeitig kann man sagen, daß in vielen Bereichen aufgrund der Beschleunigung des EU-Beitritts ein Informationsvakuum entstanden ist. Da das Bedürfnis nach kompetenten Informationen schneller wächst als die Fähigkeit, diese zu liefern, fühlten sich die befragten Personen äußerst unsicher, was besonders deutlich im November 1996 zu sehen war.

Einen merklichen Mangel scheint es an Menschen zu geben, die imstande sind, sich kompetent mit dem Thema EU zu befassen. Trotzdem kann man feststellen, daß verglichen mit dem sog. "Durchschnittsesten" die die öffentliche Meinung beeinflussende Position der Eliten überwiegend Pro-EU ist. Es gibt Grund für die Prognose, daß sie als Meinungsführer, in den Massenmedien das Wort ergreifende Menschen in der nahen Zukunft eine positivere Einstellung zur EU herausbilden werden.

Bei dem Beitritt Estlands zur EU handelt es sich um eine gleichermaßen tiefe Wende wie bei der Wiedererlangung unserer Unabhängigkeit. Deshalb ist es sehr wichtig, wie dieser Beitritt sich vollzieht. Mit welchen Problemen wir es nun auch zu tun haben - wir können behaupten - "diese Wahl war Ausdruck unserer eigenen Wünsche". Dieser ehemals sichere Wunsch legitimiert auch die Wahlen, die heute anstehen. Sog. materielle Erwägungen oder außenpolitische Abmachungen, wie man sie auch nennen mag, machen jedoch auch einen Teil des Beitrittsprozesses aus. Daneben sind neue innerestnische und in der europäischen Perspektive das "Wirgefühl" bestimmende gesellschaftliche Organisationsmodelle wichtig, die in den nächsten sechs Jahren eine sehr wesentliche Rolle spielen und die Menschen dazu bringen können, sich effektiv für die Erneuerung der Gesellschaft einzusetzen und die (zudem) Stabilität garantieren.

Welches auch der von Estland gewählte Weg sein wird - im sich modernisierenden Estland entstehen aufgrund der Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen und der Produktionsstrukturen in der nahen Zukunft auf jeden Fall neue "Verlierer" und "Gewinner". Die Frage ist die, wie sehr sie mit der sich vollziehenden EU verbunden sind - wieviel vom Pessimismus oder von den betrogenen Hoffnungen ist objektiv gesehen unvermeidlich und wieviel ist Verstärkung nicht zutreffender Informationen. Heute kann ein großer Teil der estnischen Einwohnerschaft die eigene Zukunft im europäischen Kontext nicht mehr sicher vorhersagen. Der Vergleich der Untersuchungsergebnisse zahlreicher Soziologen zeigt, daß sich in den letzten Jahren sowohl das Interesse gegenüber als auch die Informiertheit über die EU sich schnell verbessert hat. Die Wahl Estlands zum Beitrittskandidaten ist eine Veränderung mit grundlegender Bedeutung. Als Folge findet wahrscheinlich in der nächsten Zeit eine wesentliche Veränderung sowohl in der sog. Eurodiskussion als auch in der Basis der Wahlentscheidungen der Menschen statt. Die relativ linearen und eindimensionalen Entscheidungsschemata der Menschen werden durch sog. vielschichtige Wahlstrategien ersetzt, deren Ergebnisse schwerer vorherzusagen sind. Gerade aufgrund des Mangels an konkreten Informationen, welche die Wirtschaft, das Sozialsystem, die Arbeits(markt)ordnung etc. der EU betreffen, gibt es in Estland also noch zu breite Gesellschaftsschichten, die noch keine Wahl treffen und ihre Position gegenüber der EU definieren konnten.

7.2 Gewerkschaften

 

Heute gibt es in Estland drei mächtige Gewerkschaften:

1. Ametiühingute Keskliit, die insgesamt ca. 100.000 Mitglieder hat (z.B. Angestellte der Elektrizitätswerke, ca. 2500 in Narva, Kohtla-Järve und Tallinn),

2. Agrargewerkschaft, mit ca 20.000 Mitgliedern.

3. TALO (Union für Bildung, Wissenschaft und Kultur) mit 48.000 Mitgliedern.

Jeder vierte Arbeitnehmer ist also Mitglied einer Gewerkschaft.

Alle diese Unionen stehen aktiv zum EU-Beitritt und versprechen sich davon positive Auswirkungen auf Beschäftigung und Lohnhöhe.

7.3 Arbeitgeber

 

Sie treten aktiv für den EU-Beitritt ein, z.B. zeigt sich der Stellvertretende Leiter des Arbeitsgeber-Verbandes sehr engagiert im Bereich Arbeitsschutz, Sozialpolitik etc., also bzgl. Fragen, die auch im Rahmen der Verhandlungen mit der EU wichtig werden.

Verhandlungen zwischen der Regierung, den Gewerkschaften und den Arbeitgebern haben in den letzten Monaten begonnen, allerdings hat man die Gespräche momentan unterbrochen, da man für 1999 bei den Lohnverhandlungen zu keinen zufriedenstellenden Ergebnissen gekommen ist.

 

7.4 Religionsgemeinschaften

Sie stehen dem Beitritt Estlands zur EU passiv gegenüber, in der Form, daß es keine öffentliche Meinungsäußerung der Kirchen gibt. Die protestantische Kirche in Estland ist dem Beitritt gegenüber positiv eingestellt, besonders aktiv sind die jungen Pastoren in Tallinn.

 

7.5 Parteien

Stärkster Gegner des EU-Beitritts ist die „Jüriöö Liikumine", eine nicht als Partei registrierte Bewegung (da 1000 Mitglieder für die Registrierung als Partei notwendig sind). Von den Vertretern dieser Bewegung wurden Unterschriften von wichtigen Persönlichkeiten gesammelt, die gegen den Beitritt zur EU sind.

Ebenso gegen eine Mitgliedschaft in der EU ist Jaanus Reidal von der Tuleviku Eesti Erakond (Zukunftspartei Estlands), die ca. 400 Mitglieder hat. Im Großen und Ganzen besteht aber ein Konsens aller Parteien bzgl. der angestrebten Westorientierung Estlands und eben auch bzgl. des Beitritts zur EU.

 

Die Erweiterung der EU ist ein objektiver, mit der Modernisierung und Globalisierung der Welt sowie der damit verknüpften Vertiefung der Zusammenarbeit der europäischen Völker verbundener Prozeß. Die Eingliederung Estlands in immer intensivere Handels-, Informations-, Geld-, Arbeitskraftbewegungen und -wellen etc. ist unumgänglich. Der geschlossenen Systemen (eine der klassischen sozialen Formen ist der Nationalstaat) eigene chronische Informationshunger und die institutionelle Lückenhaftigkeit wird in der gegenwärtigen Zivilisation immer augenscheinlicher.

Wie kann eine neue europäische Staatlichkeit aussehen, daß sie nicht die mit klassischen Nationalstaaten einhergehenden Probleme der Machtlegitimation wiederholt, das ist in vielem noch das Objekt theoretischer Nachforschungen. Welche Möglichkeiten es gibt, diese vorerst noch theoretischen Ideen zu realisieren, das hängt in hohem Maße von der praktischen Entwicklung der Vereinigung mit der EU ab, wo neben wirtschaftlichen Erwägungen auch sicherheitspolitische Interessen immer stärkeres Gewicht gewinnen. Estland hat auf jeden Fall vier fundamentale Gründe zum Anschluß an europäische Strukturen. Erstens ist Estland geographisch europäische Peripherie und es ist objektiv erschwert, auf sog. natürlichem Weg neue "Energien" hierher umzuleiten oder an solchen "Wellen" teilzunehmen. Diesen Mangel kann man durch die Entwicklung supranationaler Strukturen kompensieren. Zweitens ist das Baltikum bis zur dichten Verbindung mit quasi-staatlichen Institutionen, wie WEU, NATO und EU, ein politisch instabiles (graues) Gebiet, was unsere Lage als Investitionsgebiet für westliche Investoren verschlechtert und Manipulationen aus östlicher Richtung erleichtert. Drittens hat Estland im globalen Modernisierungsprozess ein halbes Jahrhundert verloren. Das Aufholen der technologischen, rechtlich-kulturellen und sozialpolitischen Rückständigkeit benötigt außergewöhnliche Mittel. Ein solches und das mit der besten Perspektive ist der Beitritt zur Europäischen Union. Viertens könnten die Estland eigene sprachlich-kulturelle Identität/deren Träger in "Zusammenarbeit" mit der europäischen Identität/mit deren Trägern sehr wirksam der auf kulturellem Gebiet vordringenden Amerikanisierung entgegenstehen.

 

Wir müssen folglich also nur wählen, auf welche Weise wir am Globalisierungsprozeß teilnehmen. Die einzige Teilnahme-Perspektive ist die Partnerschaft, denn ebenso wie bei jedem kooperativen Prozess entfesselt diese in der estnischen Gesellschaft verborgene sozial-kulturelle Ressourcen und legitimiert durch die aktive Partizipation der Bürger den politischen Überbau - die Europäische Union.

Die bisweilen sogar direkt ausgesprochene Ansicht, daß der Beitritt "von den Politikern erledigt werden muß", ist Teil der postkommunistischen schwachen polity der estnischen elitären Politik. Man darf nicht vergessen - es geht um eine der grundlegendsten Entscheidungen in unserer Geschichte, die die Möglichkeiten des estnischen Soziallebens und der Wirtschaftsordnung irreversibel begrenzt.

Bei der Gestaltung der Beziehungen zwischen Estland und der EU gibt es drei grundsätzliche Variablen: erstens die, wie die Entwicklungen in Estland selbst verlaufen, zweitens die Erweiterungsperspektiven der EU selbst und drittens, welche Ergebnisse bei den Verhandlungen herauskommen.

Laut der 1997 von der EU-Kommission vorgestellten "Agenda 2000" "hat Estland demokratische Grundmerkmale und stabile Institutionen, welche den Rechtsstaat und die Menschenrechte gewährleisten... Die estnischen politischen Institutionen handeln entsprechend der Anforderungen und in stabilen Verhältnissen".

Fast alle estnischen Parteien haben ihre sichere Unterstützung für den EU-Beitritt zum Ausdruck gebracht. Deshalb ist es nicht wahrscheinlich, daß eine an die Macht kommende Parteien-Kombination (egal welcher Ausprägung) die bereits gewählte Richtung wesentlich erschüttern könnte.

Die politische Machtordnung Estlands, Parteiprogramme, staatliche Entwicklungsprogramme etc. beginnen in umfassender Weise dem Rhythmus der Staaten der EU zu folgen und damit verändert sich auch die Gestalt der politischen Landschaft. Daran, inwieweit die Bedeutung der mit der europäischen Integration einhergehenden Veränderungen für das politische Leben Estlands in der Zukunft steigt (sowohl auf staatlicher Ebene als auch bei den lokalen Selbstverwaltungen), können wir die Tiefe der praktischen politischen Integration messen (in jeder Partei bildet sich eine eigene "Eurokraten"-Partei heraus).

Zugleich ist unbestritten, daß die Erwartungen in so manchem Bereich die von der EU gebotenen realen Möglichkeiten übersteigen und im estnischen Kontext natürlicher erscheinende Lösungen begrenzen. Einbrüche und Fehlschläge der Wirtschaft verbindet man begründet und manchmal auch unbegründeterweise mit Europa.

Fehlschläge nutzt man sicher zur Diskreditierung der aktiven EU-Vertreter einer bestimmten Politik in Wahlkämpfen und privaten Zusammenstößen. Aus Kritik an der EU kann hin und wieder Populismus werden. Das alles hinterläßt Spuren auf dem image der EU. Zugleich kann aus dem verstärkten Kampf mit Europa um eine Erweiterung(spolitik) der EU einer der wichtigsten Mechanismen bei Hinzufügung der aufklärenden Beschäftigung werden. Einführende Debatten ersetzen den Gedankenaustausch der politischen Gruppen und damit auch den die Interessen der Menschen unmittelbar betreffenden.

Wenn die Bewegung in Richtung EU plötzlich die generelle Vorhersagbarkeit der estnischen politischen Entwicklungen vergrößert, dann verringert das Zusammentreffen der konkreten Interessen der Menschen mit dem sich erneuernden Europa, mit der Anpassung an die in der gemeinschaftlichen europäischen Zukunft erst Form annehmende persönliche Lebenswelt die Prognostizierbarkeit ihrer Wahlentscheidungen.

 

Zusammenfassend: Aufgrund der Schnelligkeit des Beitritts zur EU wächst das Bedürfnis nach kompetenten Informationen schneller als die Fähigkeit der staatlichen estnischen Institutionen und der Presse, diese zu liefern. Ein merklicher Mangel scheint an Menschen zu bestehen, die imstande sind, sich kompetent mit dem Thema EU zu beschäftigen. Die wichtigsten Sorgen im heutigen Estland sind: erstens - die Sorge um den Arbeitsplatz und die wirtschaftliche Situation, zweitens - die Sorge um die Zukunft der estnischen Kultur und Sprache und drittens - die unsicheren Aussichten auf die Gewährleistung sozialer Garantien in der EU.

Größtenteils geht es aber bei solchen Sorgen um Informationsmangel oder um Einstellungen vor allem zur Gewährleistung sozialer Garantien. Vorhersagen, daß in Estland in erster Linie in Fragen der Souveränität eine Anti-EU-Stimmung mit breiter Tragfläche entsteht, haben sich nicht erfüllt und derartige Erscheinungen sind wissenschaftlich schwierig zu begründen. Die beschleunigte Bewegung Estlands in Richtung EU wird mit sehr großer Wahrscheinlichkeit in der nächsten Zukunft (zwei-drei Jahre) keine größeren Widerstände hervorrufen. Die Gründe dafür sind folgende.

Erstens ermöglicht die Unausgeprägtheit der generellen "Entwicklungshemmung" Estlands und der heutigen Arbeitsteilung es noch, die Strukturierung der Gesellschaft flexibel auszurichten.

Zweitens fehlt in Estland (oder ist sehr schwach ausgeprägt) eine der Eurointegration entgegenstehende historische oder kulturelle Tradition (verglichen beispielsweise mit Litauen).

Drittens gibt es in Estland keine vom wirtschaftlichen Existenzstandpunkt aus zentralen Produktionszweige oder soziale Gruppen mit privilegiertem Stand, deren Interessen bei einem Eintritt in die EU grundlegend verletzt würden (wie in Norwegen).

Viertens erkennen Estlands mächtige Nachbarn, die wiederholt auf geopolitische Kontrolle Anspruch erhoben haben, den estnischen Beitritt zur EU an oder haben sich damit abgefunden in dem Wissen, daß er in ihrem Interesse ist.

Fünftens gibt es in Estland keine nennenswerte politische Kraft, die aus ideologischen Gründen dem Beitritt zur EU entgegentreten würde.

Sechstens hat Estland Nachbarstaaten (Finnland), deren wirtschaftliche und soziale Entwicklung und Sicherheit in starkem Maße abhängig sind von der estnischen Zugehörigkeit zur EU und die Estlands Streben sehr aktiv unterstützen.

Siebtens gibt es unter den Mitgliedsstaaten der EU keine Länder, die bezüglich Estlands ernste wirtschaftliche Bedenken hätten und die Bedingungen für den Beitritt aufstellen könnten, was seinerseits das estnische Beitrittsinteresse verringern würde (wie in Slowenien).

Achtens unterstützen die Minderheiten und die Nicht-Staatsbürger in Estland die Integration des Landes in die EU sogar noch stärker als estnische Bürger.

Verglichen mit dem sog. "Durchschnittsesten" ist die die öffentliche Meinung beeinflussende Position der Eliten überwiegend Pro-EU. Es gibt Grund für die Prognose, daß sie als Meinungsführer, in den Massenmedien das Wort ergreifende Menschen in der nahen Zukunft eine positivere Einstellung zur EU herausbilden werden.

Die den Verhandlungen der EU und Estland zugrundeliegende Logik ist jene Position Estlands, welche auch Finnland von seinem Standpunkt aus zum Ausdruck brachte - die Europäische Union braucht uns nicht, doch wir brauchen sie ganz sicher.

Gleichzeitig sind alle Parteien daran interessiert, daß das sich integrierende Estland aus dem Beitrittsprozeß nicht instabil und frustriert hervorgeht. Ein solches Estland braucht niemand. Estland wurde so manches Mal geopfert und hat viele Zugeständnisse gemacht; ein solches Land vor den Türen der EU zu lassen wäre sicherlich die schlechteste Variante. Obwohl in vielen Bereichen die für den Beitritt zur EU aufgestellten Anforderungen nicht spezifisch, sondern eher Teil einer allgemeinen Modernisierung sind, hinterließe ein partielles Scheitern der Verhandlungen ein tiefes Trauma. Sicherlich helfen uns bei den Verhandlungen die Erfahrungen der Finnen, ebenso wie diese bei den die Zukunft der Landwirtschaft betreffenden Verhandlungen vor allem in den schwedischen Erfahrungen einen wesentlichen Halt fanden.